Drei Wochen als Ärztin in Mossul, drei Wochen im Krieg
„When it comes to war, normal people get crazy and crazy people get useful“ *
Juni/Juli 2017:
Drei Wochen als Ärztin in Mossul, drei Wochen im Krieg.
Es war mein erstes Mal Krieg. Nicht das erste Mal als Ärztin in einem Krisengebiet, auch mit Menschen auf der Flucht habe ich sowohl in Deutschland als auch in Griechenland und auf der Balkanroute schon gearbeitet, aber mit Schuss- und Explosionsverletzungen, Polytraumata, schweren Verbrennungen und akuter psychischer Traumatisierung hatte ich mich bisher nur theoretisch auseinandergesetzt. Ich habe mich innerlich auf das Schlimmste vorbereitet – sowohl was die eigenen Lebensumstände als auch das Szenario vor Ort und die medizinischen Herausforderungen betrifft. Das war gut, denn das, was auf mich zukam, kam nahe an das Schlimmste meiner Vorstellungen heran. Von Explosionen zerfetzte Menschen, denen verschiedenste Gliedmaßen abgerissen wurden, von Snipern (= Heckenschützen) zerlöcherte Körper, blutüberströmte, schwerverletzte Kinder, die alles verloren hatten… Sowohl die Verletzungsmuster als auch die Geschichten der Menschen, die es lebend aus der vom IS besetzten Innenstadt Mosuls herausgeschafft hatten, brachten mich immer wieder aufs Neue zum Staunen darüber, was der menschliche Körper und die menschliche Psyche alles aushalten können.
Dass ich es selbst aushalten konnte, hat viel damit zu tun, dass ich aktiv etwas tun konnte, um das Leid (wenn auch nur kurzfristig) zu lindern und Leben zu retten bzw. das Überleben zu sichern. Das machte es für mich auf eine gewisse Weise einfacher als das alles nur machtlos in den Medien zu verfolgen.
Manchmal ging auch alles so schnell und es war sofortiges Reagieren und Handeln gefordert, sodass gar keine Zeit blieb, das Gesehen zu verinnerlichen und abzuspeichern. Es gab auch Dinge, die so unvorstellbar schrecklich waren, dass sich mein Gehirn geweigert hat sie aufzunehmen. Oder sie verdrängt hat, wie die Bilder der vielen Toten, die manchmal nachts und in stillen Momenten zurückkommen und mich daran erinnern, dass der Krieg nicht vorbei ist…
Manche Bilder haben sich aber auch eingebrannt.
Zum Beispiel der alte, abgemagerte Mann, der in seinem Haus vom IS gefangen gehalten wurde, dort den Einsturz des Hauses überlebte, sich dabei schwerste Verbrennungen und eine Kopfplatzwunde zugezogen hatte, weitere 3 Tage ohne Wasser, medizinische Versorgung, Essen unter den Trümmern gelegen und doch lebendig und mit guten Vitalparametern bei uns eingeliefert wurde und nur noch stöhnen konnte. Als er uns sah und spürte, dass ihm geholfen wurde, verzogen sich die verkohlten Gesichtszüge zu einem Lächeln.
Ein kleines Kind, dehydriert, ausgehungert, apathisch öffnete kaum die Augen während sich Fliegen in die Augenwinkel, den Mund und die offenen Wunden setzen ohne dass das Kind darauf reagiert hätte. Ein bisschen Sauerstoff, ein paar Tropfen Wasser mit einer Spritze in den Mund – und das Kind öffnete die Augen und fing an zu schreien- das Leben kehrte zurück in den kleinen Körper und es schüttelte die Fliegen ab.
Ein Mann, den mehrere Schüsse in die Brust und ein Schuss knapp an der Halswirbelsäule vorbei getroffen hatte, blutete im Schwall aus den Gefäßen der Wirbelsäule und verlor immer wieder das Bewusstsein. Entgegen aller Prognosen erreichte er lebend das Krankenhaus, während des Transportes (30 holprige Minuten durch die Trümmer Mossuls mit einem klapprigen lokalen Krankenwagen) kniete ich neben ihm und drückte mit Kompressen die Blutgefäße zu, versuchte ihn zu beruhigen, während ich mit der anderen Hand die Infusion festhielt. Er wurde sofort operiert und überlebte.
Ein kleiner Junge von 10 Jahren, der ohne seine Angehörigen in den TSP gebracht wurde. Auch er war dreckig, verletzt aber vor allem so ausgehungert, dass er sich mit einer Hand, an der eine offene Wunde klaffte, in einer Banane verkrallte, die ihm von Helfern gegeben wurde. Meine Versuche, seine Hand von der Banane zu lösen, um die Wunde zu versorgen, blieben erfolglos. Er ließ die Banane nicht los. Sein ganzer Körper zeugte von Zähigkeit und Überlebenswillen. Wir wissen nicht, wie lange er alleine in den Trümmern unterwegs war, aber er hat sich durchgeschlagen. Trotz Verletzungen, Angst, Hunger. Und er hat überlebt. Und es gibt Hoffnung, dass seine Verwandten wiedergefunden werden.
Eine junge Frau, Mutter von mehreren Kindern. Sie ist in viele Schichten schwarze Gewänder gehüllt, von denen sie als erstes den Gesichtsschleier abwirft, nachdem sie die vom IS kontrollierte Region verlassen hat. Sie kommt in den TSP, dreckig, verschwitzt, nach mehrstündigem Marsch in der Sonne mit ihrem kleinsten Kind auf dem Arm. Sie hat ihre Augen ständig bei ihren Kindern, nebenbei führt sie aufgeregte Telefonate, sorgt sich auch um die Nachbarin, mit der sie unterwegs ist. Erst als sie sicher ist, dass ihre Kinder von uns versorgt werden, alle Wasser bekommen haben und auch die Nachbarin unversehrt ist, fällt sie plötzlich vor Erschöpfung in Ohnmacht.
Diese Beispiele, die von der Stärke des Menschen und der Hoffnung in einem der schrecklichsten Kriege unserer Zeit erzählen, haben mir immer wieder den Mut und die Kraft gegeben, weiterzumachen und daran zu glauben, dass der eigene Einsatz einen Sinn hat. Trotz der vielen Toten und des Gefühls, die eigene Arbeit ist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Auch wenn man über den grundsätzlichen politischen Impact humanitärer Einsätze diskutieren kann, ist die humanitäre Sinnhaftigkeit für mich unumstritten und rechtfertigend sowie ein Zeichen der Solidarität und des Nicht-wegschauens. Und weitergedacht, ist auch die Akuthilfe in einem TSP eine nachhaltige Arbeit, denn jedes gerettete Menschenleben kann in Zukunft am Wiederaufbau und an der Neugestaltung dieses Landes mithelfen und vor zukünftigen Kriegen warnen. Inschallah.
Elisa im Gespräch mit einer Patientin. Foto: privat
Manchmal lag ich abends nach einem langen Tag voller Kampf gegen den Tod auf dem Feldbett vor unserer Garagenunterkunft, bei 46°C in voller Montur, denn es könnten ja jederzeit Verletzte eingeliefert werden, und mir fiel auf, dass ich die Geräuschkulisse aus Explosionen, Artilleriefeuer, Detonationen der Luftangriffe gar nicht mehr wahrnahm. Erschreckend, wie schnell ich mich nicht nur an die Hitze, das Essen, die Präsenz von Soldaten in meinem „Wohnzimmer“ sondern auch an die Geräuschkulisse des Kriegs gewöhnt hatte. Ich fragte mich manchmal, wie ich es überhaupt noch fertigbrachte zu lachen, zu lesen und einfach weiterzuleben…während wenige Hundert Meter von mir entfernt Menschen starben. War das Abstumpfung? Ich glaube nicht. Ich glaube, es ist eine lebensrettende Maßnahme, sich an extreme Situationen zu gewöhnen, um handlungsfähig zu bleiben und nicht an der Realität zugrunde zu gehen. Die Realität des Krieges konnte ich nicht ändern, daher musste ich mich daran gewöhnen, um für die betroffenen Menschen da sein zu können. Ich fokussierte mich auf die Alltäglichkeit, den Moment, die aktuellen Begegnungen und Interaktionen. Denn in den Momenten, in denen mir bewusstwurde, was für ein Wahnsinn eigentlich um mich herum passiert und wie menschgemacht und sinnlos das Leiden und Sterben ist, gegen das wir ankämpften, hätte ich am liebsten das Handtuch geschmissen.
Gegenüber der humanitären Hilfe bei Naturkatastrophen zum Beispiel, bei denen der auslösende Faktor kein menschlicher ist und nichts mit einem selbst zu tun hat, waren wir hier mit einer Situation konfrontiert, in der wir bzw. die europäische und auch die deutsche Außenpolitik eine aktive Rolle, u.a. als Waffenexporteure usw., spielen. Darüber hinaus geht es um einen Konflikt, in dem verschiedenste Akteure eine Rolle spielen und der so komplex ist, dass eine klassische Sichtweise von „das sind die Guten und das sind die Bösen“ nicht möglich ist, zumindest für mich nicht. Und auch haben wir es nicht mit schicksalsbedingten Krankheiten und Verletzungen zu tun, sondern mit den Auswirkungen von Gewalt, die Menschen Menschen angetan haben. Das macht viele Gefühle wie Wut, Verzweiflung, Traurigkeit, Angst….noch komplizierter. Eins bleibt einfach: Krieg ist scheiße.
Leider traurige Realität im TSP. Verwundung, Blut und Tod werden zeitweilig Alltag. Foto: Kenny Karpov
Schwierig war für mich, wenn die eigene Weltanschauung und medizinische Ethik aufeinanderprallten. Nicht selten wurden IS Kämpfer zu uns gebracht. Manchmal wussten wir eindeutig, dass sie Daesh (lokaler Begriff für den IS) Anhänger sind, manchmal wurde es nur vermutet. Dann wurde die suspekte Person so lange festgehalten, bis die Personendaten in der Datenbank des lokalen (und auch internationalen) staatlichen Anti-Terror-Netzwerkes geprüft wurden. Häufig waren schwer verletzte Kämpfer darunter und ich stand vor der Frage, ob ich in ihnen einen terroristischen Massenmörder oder ein verletztes Individuum sehen sollte. Während ich ihr Leben rette und ihre Verletzungen behandelte, stellte ich mir vor, dass dieser Mensch andere Menschen getötet, gefoltert, vergewaltigt hat und ich stand vorm größtem moralischen Zwiespalt, der mir in meinem Job je begegnet ist. Behandeln oder nicht behandeln…. Am Ende gewann aber der hippokratische Eid und die Überzeugung, dass ich nicht das Recht habe, über Leben und Tod eines anderen Menschen zu entscheiden. Das würde dann der irakische Staat tun- oder die internationale Anti-Terror-Koalition.
Noch schwieriger war das für mich, wenn die Frauen und Kinder der IS Kämpfer meine Patient*innen waren. Bei den Kindern hatte ich nie Bedenken- Kinder sind unschuldig, abhängig von ihrem Umfeld und Elternhaus und auch die bewaffneten Kindersoldaten sind für mich Opfer. Bei den Frauen frage ich mich allerdings häufig, ob sie von ihren Ehemännern/Vätern/Brüdern gezwungen wurden, den Dschihad zu unterstützen? Ob sie aktiv an deren Gotteskampf teilhatten? Oder ob sie sich eigenständig dem IS angeschlossen hatten? Es gab tatsächlich alle Varianten, doch hatte ich meist nicht die Zeit, um herauszufinden, welche ich gerade vor mir hatte. Es hätte auch nichts an meiner Behandlung geändert.
Manche Frauen waren alleine, kamen aus Tschetschenien, Pakistan, Usbekistan etc.- waren sie selbstständig nach Mosul gekommen, um für den Islamischen Staat zu kämpfen? Mein eigenes Konstrukt von Opfern, Tätern, Geschlechterfrage gerät ins Wanken. Ganz zu schweigen von der Frage, wann Mitwisser*innenschaft zur Täter*innenschaft wird… eine Schuldfrage ähnlich der der Nazi-Schuld-Frage nach dem 2. Weltkrieg.
Aber nicht nur die Arbeit im TSP auch die Ausgangssituation brachte Herausforderungen mit sich, die ich so vorher nicht bedacht habe. Zum Beispiel die Zusammenarbeit mit dem irakischen Militär war für uns eine aus Sicherheitsaspekten nicht vermeidbare Notwendigkeit. Für mich erstmal schwierig. Aus meiner politischen Grundhaltung heraus würde ich ein Leben ohne Staat, ohne Nationalgrenzen, ohne Militär und ohne Polizei bevorzugen. Die Anwesenheit von Militär – aufgrund der hierarchischen und patriarchalen Strukturen – ist mir unangenehm. Im Laufe der Zeit lernte ich einerseits einzelne Menschen zu schätzen, einzelne Individuen hinter dem Gesamtbild einer Institution zu sehen, und auch meinen Weg in der täglichen Kooperation zu finden. Andererseits hatte ich die ganze Zeit mit meinen politischen Widerständen zu kämpfen. Und mit meinem Dasein als Frau.
Das war ein Punkt, den ich so nicht bedacht hatte. Ich wusste, dass der Irak ein muslimisches Land ist, dass in Mossul 3 Jahre lang das vom IS implementierte Kalifat geherrscht hat und dass das Frauenbild im Islam deutlich von unserem abweicht- milde ausgedrückt. Dass Frauen hier unterdrückt werden, war mir klar. Das fand ich schon immer ungerecht und schrecklich, aber es hatte nichts mit mir zu tun. Ich machte mir vor meiner Abreise lediglich Gedanken darüber, ob ich auch ein Kopftuch oder einen Schleier tragen müsste. Nein, musste ich nicht. Knöcheln, Schultern und Oberarme zu bedecken reichte, also lange Hosen und ellenbogenlanges Oberteil. Ich hätte mir zwar bei 48°C im Schatten oft ein ärmelloses Top und eine kurze Hose gewünscht, aber das war zu ertragen. Vor allem angesichts der vielen Lagen Stoffe, Unterkleider, Oberkleider, Handschuhe und Schleier, die die Frauen dort (er-)tragen mussten. Was für mich viel schwieriger zu ertragen war, war die Tatsache, dass ich bei der Arbeit mit dem Militär (darunter Militärärzte, Krankenpfleger, Generäle etc.) und den Patient*innen als weibliche Krankenschwester nicht als Ärztin wahrgenommen und behandelt wurde. Bitte nicht falsch verstehen. Ich habe eine große Hochachtung vor allen Pflegeberufen und sehe die pflegerische Arbeit als absolut gleichwertig zur ärztlichen. Ich wünsche mir viel weniger Hierarchien und eine gleiche Anerkennung zwischen den verschiedenen Berufsgruppen im Gesundheitswesen. Aber wenn schon Unterschiede gemacht werden, würde ich mir wünschen, dass sie nicht alleine aufgrund des Geschlechts gemacht werden. Klassischerweise wurde ich mit den Worten gerufen: „Elisa come, we need a female nurse“. Es war völlig natürlich anzunehmen, die junge Frau sei eine Krankenschwester. Dass es weibliche Ärztinnen gibt, dass diese aus dem Westen in muslimische Länder reisen und dort selbstständig arbeiten, Schwerverletzte versorgen, Auto fahren und in einer NGO eine gleichwertige Position im Team haben, war dort schwer akzeptierbar. Ich versuchte, mich davon nicht beirren zu lassen und einfach weiterzumachen. Mich nicht darüber zu ärgern, dass die Anerkennung häufig an die männlichen Crew-Mitglieder ging, meine Arbeit weniger gewürdigt wurde oder ich manchmal einfach weggedrängelt wurde. Aber als ich dann noch gebeten wurde, mich leiser und weniger dominant zu verhalten und auch ein längeres T-Shirt anzuziehen, wurde mir endgültig klar, dass das Frauenbild in diesem Land meine Arbeit hier beeinflusst.
Mein Resümee: Ich werde es auf jeden Fall wieder tun- mit CADUS in einen Einsatz zu gehen. Aber auch hier gibt es viel zu tun. Der Kampf für globale Gerechtigkeit, für Frauenrechte, gegen Rassismus, Klassen, Kapitalismus und Militarismus hängt eng zusammen und muss überall geführt werden!
*dieser Spruch stammt von einem befreundeten Sanitäter aus Australien, der seit vielen Jahren in der humanitären Hilfe in Kriegsregionen arbeitet und spiegelt seine Erfahrung mit den freiwilligen Helfer*innen vor Ort wieder.
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